Montag, 16. September 2013

Die Qual der Wahl

Es ist wieder mal soweit. Die Zeit ist reif und alle freuen sich drauf! Naja, eigentlich nicht, aber mancher vielleicht. Wer sich sicherlich darauf freuen dürfte sind die, die ohnehin schon da sind, wo sie deswegen hinkommen könnten, und die, die noch nicht da sind, aber deswegen dahin kommen könnten, deren Chancen, es tatsächlich zu schaffen, werden gemeinhin eher als gering eingeschätzt.

Die Rede ist natürlich von der Bundestagswahl 2013. Seit Wochen beschweren sich alle darüber, dass sie nichts davon mitkriegen, wie die Parteien sich auf den großen Termin vorbereiten. Stattdessen beschränken sich alle darauf, wenn doch mal aus Politikerkreisen etwas laut wird, das auch nur geringfügig nach Kritik am jeweiligen Gegner klingt, dies sofort solange als wahlweise „Wahlkampftaktik“, „Wahlkampfgehabe“ oder, mein Favorit, „Wahlkampfmodus“ zu bezeichnen, bis tatsächlich jemand glaubt, es handele sich ebendarum. Wahlkampfmodus, da habe ich immer das Bild eines mehr oder minder klugen Automaten vor Augen, der über zwei Weisen des Daseins verfügt: Entweder ist er so eingestellt, wie es jeder von ihm erwartet, und keiner schert sich weiter darum, während er ruhig in seiner Ecke steht und vor sich hinsummt. Plötzlich aber leuchten diverse rote Warnlämpchen auf, ein hohes Pfeifen wird laut und dann ist es passiert: Er ist im berüchtigten Wahlkampfmodus, in dem er unberechenbar und mit einem Mordsgetöse um sich schlägt, mit Vorliebe auf seine Kollegen.

Mitunter geht das nach hinten los und er muss, ebenfalls eine von mir heißgeliebte Redewendung, „zurückrudern“, oder was in letzter Zeit noch häufiger der Fall zu sein scheint, er muss von irgendeinem seiner Parteifreunde „zurückgerudert“ werden. Stellen Sie sich bitte folgende Idylle vor: Es sitzen Politikerin A und Politiker B, die hier nur Stellvertreter sind, gemütlich in einem kleinen Ruderboot, eins von diesen kleinen Nussschalen mit nur zwei Rudern und im besten Fall zwei Bänken. Im Hintergrund knödelt Louis Armstrong sein allseits bekanntes und beliebtes „What A Wonderful World“ aus dem tragbaren Radio. Während disneyesk die Vöglein um den Sonnenschirm kreisen, der beiden Bootsinsassen ein wenig Schatten gegen die Sommersonne spendet, genießen diese das Leben. Dann plötzlich Fade-Out für Louis oder wahrscheinlicher (und unserem aktuellen Zeitgeist geschuldet): Ein übermäßig kräftiger Bass teilt plötzlich den Song in gleichmäßige Viertel, während er um mehrere Schläge pro Minute beschleunigt. Wie im Fieberwahn beginnt B mit einem Megaphon, kein Mensch weiß, woher er das plötzlich hat, politische Parolen in die sommerliche Landschaft zu brüllen. Während die Vögel panisch das Weite suchen, ist A verzweifelt damit beschäftigt, B auf seinen Platz zurückzuziehen, der sich nun wild von einer Seite auf die andere wirft und weit über die Reling hängend seine Pläne verkündet. Hell blinken Warnlampen und tönen die Pfeifen. Endlich gelingt es A, B zum Stillsitzen zu bewegen und das Boot, das darob mächtig ins Schwanken geraten war, wieder leidlich auszubalancieren. Louis hat die Technos aus seinem Studio wieder vertrieben und etwas verschämt ergreift A die Ruder und hält auf das Ufer zu. Hatten Sie dieses Bild bei dieser Redewendung noch nie vor Augen? Nein? Nun, dann wurde es aber allerhöchste Zeit.

Und als wäre das alles noch nicht genug, ist dieser Politiker B in jeder Partei mindestens einmal vorhanden. Insbesondere wenn die politischen Katzen ihre parlamentarischen Ferien genießen, kommen deren Mäuse plötzlich auf die grandiose Idee, die Schlagzeilenflaute mit ihren geistigen Ergüssen überbrücken zu müssen. Das dabei die eine oder andere Schiffbruch erleidet ist von vornherein klar, aber was tut man nicht alles für ein bisschen mediale Aufmerksamkeit. Und so geistern immer wieder geniale Einfälle durch die Gazetten, wie zum Beispiel vor Kurzem der Einfall eines FDP-Vertreters, der meinte, man müsse die Engpässe bei der Deutschen Bahn einfach dadurch beseitigen, dass sich jetzt anständiges Bahnpersonal finde, das bereit sei, seinen Urlaub abzubrechen und einzuspringen. Wen er sich damit zum Freund zu machen glaubte, ist mir noch nicht ganz klar, sicher allerdings dürfte sein, dass die FDP von den Bahnangestellten nun ein paar Wählerstimmen weniger erhalten wird. Vielleicht sollte besagter FDP-Mann seine nächsten Ferien abbrechen, um diesen Fauxpas auszubügeln.
Ähnlich ungeschickt stellten sich sicherlich auch die Vertreter der Grünen an, die lautstark darauf bestanden, es müsse in Kantinen und Mensen in Zukunft einen vegetarischen Tag geben, an dem keine Fleischgerichte serviert werden dürften. So wichtig ich die Reduzierung des Fleischkonsums und so nobel ich die Haltung des Vegetarismus oder gar Veganismus finde, so schädlich dürfte für alle drei Anliegen ein solcher Vorschlag gewesen sein. Plump gesagt: Dem ausgewachsenen Fleischfresser verbietet man nicht einfach sein Fleisch. Etwas elaborierter: Auch die Ernährungsgewohnheiten gehören im weiten Sinne zu den Persönlichkeitsrechten des Menschen und demnach sind sie nicht so leichtfertig einzuschränken. Diese Maßnahme, einmal durchgesetzt, wäre darüber hinaus allenfalls ein Scheinsieg, denn, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Schwein rettet man nicht, indem man sein fertiges Schnitzel nicht verzehrt, sondern indem man es gar nicht erst zum Schnitzel werden lässt. Soll heißen, tiefgreifender und damit wirkungsvoller wäre eine Maßnahme, die beim Bewusstsein der Leute ansetzt und nicht erst bei ihren Essgewohnheiten. Wer gewährleistet denn, dass man mit einem vegetarischen Tag in Deutschlands Kantinen nicht einfach bloß die Umsätze der nächsten Döner- und Currywurstläden in die Höhe treibt?

Aber was die Mäuse können, das können die Katzen schon lange und daher dauert es natürlich auch nie lange, bis diese wieder auf den Nasen der Republik herumtanzen. In noch nicht dagewesenem, weil technisch nicht erreichbarem Umfang hat die NSA-Affäre der Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass das geflügelte Wort vom gläsernen Bürger auf den Schwingen des amerikanischen Nationaltiers schwebt. Um Schadensbegrenzung bemüht und um das Wahlvolk nicht unnötig zu beunruhigen wurde hierzulande prompt ein Ausschuss gebildet, der mit der Aufgabe betraut war, ein wenig Licht in die Schatten der Geheimdienstarbeit zu bringen. Möglicherweise hatte die Bundesregierung tatsächlich gute Vorsätze, als sie mit allem gebotenen Respekt vor England und USA kroch. Die Antworten blieben dennoch aus. Die USA machten sich nicht erst die Mühe zu leugnen, das NSA und andere Geheimdienste Daten aus aller Welt in großem Stil abfischen, worüber man vermutlich noch dankbar sein muss, versicherten auch, es werde auf deutschem Boden deutsches Recht gewahrt. Das kommt in etwa der Versicherung des Nachbarn gleich, der auf der Leiter am gemeinsamen Zaun steht, einem die Kirschen vom Baum klaut, dabei freundlich grüßt und hochheilig verspricht, dazu nicht auch noch das Blumenbeet zu zertreten. Bei den Briten war die Abspeisung noch lapidarer. Es hieß, man müsse solche Anfragen direkt an den Nachrichtendienst des UK GCHQ stellen, da man nicht zu dessen Arbeit in der Öffentlichkeit Stellung nehme. Stellt sich eigentlich nur noch die Frage, ob das aus Ignoranz oder eigener Unwissenheit über dessen genaue Aktivitäten geschieht.

Und als wäre das noch nicht genug stellt sich dann doch tatsächlich ein gewisser Kanzleramtsminister nach monatelangem Hin und Her, das weiter nichts als Ratlosigkeit und Lippenbekenntnisse erbracht hat, vor die Mikrophone dieser Republik und erklärt die NSA-Affäre für beendet. Das hat mit dem Öffentlichkeits- und Transparenzanspruch, den eine Demokratie haben sollte, gar nichts zu tun, eher mit den genervten Eltern eines widerspenstigen Kindes, dessen Versuche, länger aufbleiben zu wollen, für beendet erklärt werden, bevor es wieder ins Bett gesteckt wird. Leider drängt sich mir dieser Eindruck vom Verhältnis zwischen Regierung und Wahlvolk auch an anderer Stelle immer wieder auf. Zudem heißt es aus derselben Partei, sei das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein Idyll aus alten Zeiten. Jawohl, das ist es und in diesem Fall dürften sich die Konservativen ruhig mal ihrem Namen gemäß verhalten und dieses Recht konservieren. Natürlich ist jeder gehalten, seine Privatsphäre so gut es geht selbst zu schützen und mit den Informationen, die ihm gegeben werden und die er vergibt, sorgsam umzugehen. Aber wenn es sich um Lauschangriffe von staatlicher Seite handelt, dann ist der Einzelne klar unterlegen. In solchen Fällen ist es schlichtweg die Pflicht der eigenen Regierung, ihre Bürger vor solchen Angriffen zu schützen. Klar ist auch, dass eine Nationalregierung keine globale Gesetzgebung vollbringen kann oder sollte, aber es wäre schon ein Schritt, wenn man mit den anderen Staaten über solche Abkommen verhandelt, anstatt sich taub für die Anliegen der eigenen Bevölkerung zu stellen.

Erst recht unnötig ist die Behauptung, ebenfalls eines Unionspolitikers, keinem geringeren als unserem Innenminister nämlich, der kurzerhand die Sicherheit zu einem „Supergrundrecht“ erklärt, dem alle anderen Grundrechte unterzuordnen seien. Das ist nicht nur sprachlicher Unsinn, denn wenn man ein Supergrundrecht postuliert, kann man sich gleich an eine Verfassungsänderung machen, Grundrechte heißt dieser Kanon deswegen, weil er erst einmal grundsätzlich jedem und dabei jedes Recht gleichermaßen zusteht. Es scheint, nicht nur unser Innenminister, sondern insbesondere die Führung der „finest nation of the world“ sollte sich einmal an ihre Wurzeln und an die Worte eines ihrer Gründerväter erinnern, der in etwa sagte, wer seine Freiheit aufgebe, um ein wenig mehr Sicherheit zu haben, der werde am Ende beides verlieren. Im Kampf für die eigene Freiheit sollte man sehr sorgfältig prüfen, dass man sie dabei nicht selbst erstickt.

So sieht es derzeit aus. Etwas mulmig ist mir daher als Wahlberechtigter, blicke ich auf den nächsten Sonntag. Soll ich nun Politautomaten, Megaphonschwinger, Mäuse, Katzen oder Konservative wählen. Und womit werden sie uns dann in Zukunft erfreuen? Ich wünsche Ihnen jedenfalls ein glückliches Händchen am nächsten Sonntag im Lokal, in dem man vergeblich darauf wartet, dass ein Kellner die eigene Bestellung mit den aufmunternden Worten kommentiert: „Eine gute Wahl!“.

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