Freitag, 1. Juni 2012

Ist die Kapselszene in „Matrix“ ein Teil der realen oder der Scheinwelt?


Dieser Text ist aufgrund eines Gedankenspiels, zu dem uns einer unserer Philosophiedozenten aufgefordert hat, enstanden. Wie die Überschrift vermuten lässt, geht es um den Spielfilm „Matrix“, der wohl schon den einen oder anderen Philosophie-Interessierten beschäftigt hat. Der theoretische Hintergrund ist nach wie vor Descartes' Dualismus von Körper und Geist.

Eine kurze Erklärung für die, die den Film nicht mehr genau in Erinnerung haben und für die, die ihn überhaupt nicht kennen: Der Protagonist Neo, der bis dahin ohne sein Wissen in der von Maschinen erschaffenen virtuellen Welt der Matrix gelebt hat, wird von Morpheus, der sich sowohl in dieser virtuellen Welt als auch in der Welt außerhalb der Matrix bewegt, vor die Wahl gestellt, ob er ebenfalls den Schritt aus der Matrix heraus unternehmen will. Das Treffen zwischen beiden findet innerhalb der Matrix, in einem verlassenen mehrstöckigen Haus statt. Morpheus und Neo sitzen sich in einem Raum in zwei Ledersesseln gegenüber. Morpheus hat zwei Kapseln bei sich, von denen die rote Neo den Weg aus der Matrix ebnet, die blaue hingegen seine Erinnerungen an das Zusammentreffen löscht. Neo entscheidet sich für die rote Kapsel.

Der Dialog zwischen Morpheus und Neo im verlassenen Haus gehört zweifellos zu den Schlüsselszenen des Films, in der sich für Neo bestätigt, dass seine Zweifel an seiner Welt nicht grundlose Paranoia, sondern berechtigt sind. Morpheus, bezeichnenderweise sowohl mit dem Namen des griechischen Gottes des Traumes, als auch mit seiner Insignie, einer Kapsel, ausgestattet, bietet Neo die „Wahrheit“ an. Die Wahrheit bedeutet hier, dass er in einer Scheinwelt gelebt hat, die als Gefängnis seines Verstandes dient.
 Auf die Frage, ob dieser Moment nun zur realen oder zur Scheinwelt des Films gehört, würde ich antworten, dass er in gewisser Weise zu beidem gehört. Das Haus und auch das Zimmer sind, wie Morpheus sagt, Teil der Matrix, die eine traumähnliche, virtuelle Welt darstellt, in der die Menschen vom Aufwachen abgehalten werden. Auch das Aussehen der Protagonisten gehört, wie sich später herausstellt, zu den Illusionen, die diese Welt erzeugt. Selbst die Kapseln, zwischen denen Neo wählen soll, sind höchstwahrscheinlich nur Schein. Zusammenfassend träumt Neo, er sitze mit Morpheus in zwei roten Ledersesseln, um zwischen Matrix und „echter“ Welt zu wählen. Was aber in meinen Augen etwas Anderes darstellt, ist Neos Entscheidung die rote Kapsel zu schlucken. Weniger der Akt des Kapselschluckens, der ja geträumt ist, als viel mehr die Entscheidung selbst, die im Nachhinein zum Aufwachen Neos führt. Ich denke, dieser Willensakt kann nicht von der ihn umgebenden Matrix stammen, weil er in direkter Linie dem Ziel der Matrix, die Menschen sediert zu halten, widerspricht und im Film sieht es so aus, als ob Neo danach in der realen Welt aufwacht. Sicher kann man sich da natürlich nicht sein, es könnte sich auch um einen geschickten Auffangmechanismus für Skeptiker handeln.

Descartes würde an dieser Stelle vermutlich zustimmen und darüber hinaus noch einwenden können, dass Neo, hätte er gründlicher nachgedacht, nur sicher wäre, dass er selbst existiert, insofern er an der Matrix zweifelt. Morpheus und die umgebende Welt könnten eine Täuschung der Matrix sein. Die Matrix , die ja in gewisser Weise die Rolle des deus malignus übernimmt, könnte ihm freilich auch die Entscheidung und vor allem den erfolgreichen Austritt aus der Matrix nur vorgegaukelt haben, während er in Wirklichkeit nur in eine „zweite“ Stufe der Matrix gewechselt ist. Insofern wäre die Täuschung der Matrix natürlich noch wirkungsvoller, weil Neo vermeintlich befreit, wohl wenig Zweifel an seiner neuen Welt hegen würde.
Mir scheint sich die Frage gerade in die Richtung zu verschieben, wie viele Scheinwelten es tatsächlich gibt. Die Existenz einer realen Welt würde ich zumindest deswegen voraussetzen, weil nach meinem Verständnis jede virtuelle bzw. geträumte oder erdachte Welt einen Ursprung braucht. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass die Welt, in der Neo nach der Kapselszene aufwacht, diese sein muss. Tatsächlich können wir ja sogar festhalten, dass sie der Ursprung nicht sein kann, weil sie lediglich die fiktionale Welt eines Drehbuchs ist.

Ich würde mich aber abgesehen von solchen weiterführenden Überlegungen weiterhin dafür entscheiden, mit einem „beides“ zu antworten. Das konkrete Aussehen der Kapselszene gehört zur Scheinwelt, die die Protagonisten durchschreiten, was aber Teil der realen Welt ist, ist Neos sich bestärkende Zweifel an der Matrix und schließlich seine Entscheidung, aus der Matrix heraustreten zu wollen, unabhängig davon, wie erfolgreich seine Bestrebungen nun gewesen sein mögen.