Sonntag, 25. November 2012

Es wird kalt

Es war kalt, soviel ließ sich mit Sicherheit sagen. Grau war es, ja, auch das ließ sich schlecht leugnen. Es regnete zwar nicht, aber der Niederschlag zeichnete sich dafür umso deutlicher auf den Gesichtern der Passanten ab. Die plötzliche Unbeweglichkeit stand in krassem Gegensatz zu deren Eile. Schlichte Unbeweglichkeit. Monotone Starre. Unumstößliche Ruhe. Ein tiefer Atemzug in morgendlicher Atemlosigkeit. Niemand wollte verweilen, obgleich sie die einzig einladende Geste in dieser Unwirtlichkeit war. Noch dazu war es früh und jeder versuchte, so wenig Zeit wie irgendmöglich draußen zu verbringen. Jeder hastete von einem beheizten Raum zum nächsten. Sie aber nicht. Sie stand dort. Bereits seit zwei Stunden, ja, kaum dass die Sonne hinter der Wolkendecke zu erahnen war, konnte man ihre Umrisse dort wahrnehmen. Das Podest schmucklos. Dort an dem ewig gleichen Platz. Keine Inschrift, die zum verweilen einlud. Zwischen angespannten Mienen, allein ihre Züge ebenmäßig und glatt mit einem goldenen Schein darauf. Das Einzige, was an Wärme erinnert in dieser diesigen Luft. Noch ein Atemzug voll kühler Luft füllte die Lungen. Unbeteiligt starrte sie geradeaus. Keiner schien sie wahrzunehmen, so wie sie niemanden eines Blickes würdigte. Und dann doch eine Bewegung: Eine einzelne Münze, die so scheint es, laut durch die Luft wirbelt, bevor sie in einem Hut landet. Und dann bewegt auch sie sich. Eine fließende Bewegung, die man zuvor nicht für möglich gehalten hat. Eine Verbeugung und ein höflich gehobener Hut. Eine ebenso elegante Bewegung und der Körper erstarrt wieder. Der Blick wird starr. Die lebende Statue entschwindet aus der Welt der Lebenden. Ein Denkmal schlichter Unbeweglichkeit bis jemand von ihr Notiz nimmt. An diesem Morgen, an dem keiner draußen sein will. Es wird kalt.

Dienstag, 18. September 2012

Lehrer - Ein Drama in drei Aufzügen

Es ist schon seltsam, was einen manchmal so packt und gedanklich festhält. Jedenfalls bemühe ich mich immer noch, vollends auszuloten, wie tief die Verwandschaft von Autofahren und Lehrerdasein geht.

Seit einigen Tagen mache ich ein Praktikum an einem niedersächsischen Gymnasium und neben einer Menge neuer Eindrücke hat sich vor allem dieser Vergleich eingeprägt, von dem ich bisher glaube, dass er den Weg eines Lehramtsstudenten recht treffend beschreibt. Oder schränken wir es ein wenig ein: Meinen Weg.

Es ist Abend und wir befinden uns, was für manchen ein Novum darstellen mag, in einem Theater. Die typische Stimmung vor dem Beginn eines Stückes herrscht. Die Zuschauer sind damit beschäftigt, ihre Plätze zu finden: "Entschuldigen Sie bitte, ich müsste hier durch! Dankeschön" "He, mein Kleid!" "Pardon."... "Ach Gott, Hermann, ich habe Dir doch gesagt, dass wir uns hier auf der falschen Seite befinden! Auf der Karte steht ganz eindeutig: links!" "Dein Links oder mein Links?". Sie tauschen sich über Gerüchte die Inszenierung betreffend aus oder über Alltägliches: "Nein, nein ich habe gehört, dass heute mal keine Nackten zu sehen sein sollen", "Na, immerhin." Dann wird das Licht über dem Publikum gedimmt und im Auditorium kehrt gespannte Ruhe ein. Die Scheinwerfer leuchten auf und lassen die Bühne erstrahlen. Das obligatorische Husten eines Zuschauers zerreißt die Stille, dann geht der Vorhang auf.

Erster Aufzug: Der Ort: Eine Autobahn oder Landstraße. Darauf mehrere Fahrzeuge. Der Blick in eines der Autos ist frei. Hinter der Fahrerin/dem Fahrer (nicht Zutreffendes bitte ausstreichen)  sitzt auf der Rückbank, wie es sich bis zu einer gewissen Körpergröße gehört, ein Junge und ist, wie so oft weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Dieser Junge hat, und da stünde ihm ein Mädchen in nichts nach, zwei Möglichkeiten, sich die Zeit während der Fahrt zu vertreiben: Entweder blickt er, wie wohl die meisten, zur Seite hinaus oder in ein Buch (möglich) oder sogar auf einen Bildschirm (zunehmend wahrscheinlich). Wählt er diesen Weg, ist die Geschichte vorerst erzählt, gesetzt den Fall, man möchte sich an dieser Stelle nicht darüber auslassen, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn das gesamte Leben durch Elektronik, so scheint es, bestimmt wird. Fußnote: Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie, die die These beweist, es handele sich bei Iphone und Co. weniger um eine Gegenstandsbezeichnung, als viel mehr um eine Beschreibung einer auffälligen Verhaltensänderung (Manche mögen sogar sagen: Verhaltensstörung), stehen noch aus.
Doch soll solches hier nicht Gegenstand sein.

Zurück zu unserem Jungen: Stellen wir uns weiterhin vor, nach seiner Verortung in einem sich mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegenden, vierrädrigen Vehikel, das vermittels der Kraft bereits seit Jahrmillionen verstorbenen, organischen Materials seinen Weg nimmt, und der danach getroffenen Feststellung, er habe sich trotz aller von dieser ausgehenden Versuchung gegen die schnöde, immer elektronischer und immer flacher werdende Unterhaltung durch Smartphones, tragbare Konsolen, usw. , aber auch gegen die seit Jahren unpopulärer werdende Ergötzung entschieden, die sich vor allem jene auf Zellulose und darauf aufgetragene Farbpigmente gestützte Folianten zu suggerieren sich herausnehmen, so bleibt schließlich nur eine Möglichkeit übrig, die zu wählen der Junge in der Lage sich befindet: Er blickt zur Windschutzscheibe hinaus. Setzen wir darüber hinaus voraus, dass an diesem Tage gutes Wetter und nicht allzu viel Verkehr herrscht, so ließe sich denken, der Junge habe einen recht guten Ausblick auf die vor ihm liegende Wegstrecke. Sind wir so frei, und gestehen diesem Jungen, dem bereits erwähnten Mädchen mag das auch geschehen, die entsprechende Menge Grips zu, die es erfordert, die metaphorische Kraft dieser Aussicht zu erkennen, so haben wir in etwa die Situation, in der ich mich in Rückschau auf mein früheres Selbst gerade befinde: Der Junge sitzt auf der Rückbank des Wagens angeschnallt, hat also keinen Einfluss darauf, wohin es geht. Aber er kann sich ein Bild davon machen, wohin der Fahrer will, den er im Übrigen auch gut beobachten kann. Und zum ersten Mal mag sich dieser Junge darüber Gedanken machen, ob ihm das Ziel zusagt. Achtung: Erste Stufe des Vergleichs:
Der Junge ist also gewissermaßen Schüler, der dem Lehrer, also dem Fahrer des Wagens, dabei zusieht, wie dieser jenen zum Ziel fährt/führt. Vorhang.

Szenenwechsel: Das Auto, das wir zuvor gesehen haben, hat sich verändert. Ob es nur in die Jahre gekommen, oder durch ein neueres und moderneres Modell ersetzt worden ist, wie es immer wieder der Fall ist (Gerade im Bildungswesen!) bleibt der Vorstellung des Zuschauers überlassen. Die alte Straße dürfte mittlerweile mindestens vierspurig ausgebaut sein. Auch Fahrer und Junge haben sich verändert: Nach Erreichen der dafür geforderten Körpergröße, hat der Schüler den Platz auf der Rückbank gegen den auf dem Beifahrersitz eingetauscht. Wohl hat der Fahrer auch so viel Vertrauen zu seinem Fahrgast gefasst, dass er nicht fürchtet, dieser könnte ihm urplötzlich in Gangschaltung oder gar Lenkrad greifen wollen. Wie dem auch sei, der Blickwinkel des Jungen hat sich verändert, ja, das zuvor vielleicht nur vage empfundene Gefühl, selbst einmal den Weg  bestimmen zu wollen, ist zu einem nicht zu leugnenden Wunsch und Ziel dieses Jungen geworden. Im günstigsten Falle handelt es sich um einen begnadeten Fahrer, der bereit und in der Lage ist, die Fragen des Jungen zur Führung des Wagens zu beantworten. Der Austausch zwischen Fahrer und Beifahrer, die sich neben dem Ziel ihrer Fahrt auch schon über den Weg und die Form der Fortbewegung unterhalten, dominiert die Szene. Ja, es mag sogar geschehen, dass während einer kurzen Pause, um sich die Beine zu vertreten, der Fahrer dem Beifahrer anbietet, selbst für eine kurze Strecke das Steuer zu übernehmen. Ermuntert durch die Aufforderung wird der Junge vielleicht sogar die Chance ergreifen und sich am Lenkrad probieren  Zweite Stufe des Vergleichs: Ein neugieriger und zugegebenermaßen auch etwas aufgeregter Praktikant, der Junge, sitzt mehrere Male auf dem Beifahrersitz und versucht, so viel wie möglich aus dem Wegstück mitzunehmen, das er da vom Fahrer präsentiert bekommt. Seine Mimik verrät dem aufmerksamen Zuschauer, dass es ihm hin und wieder in den Fingern juckt, den Fahrersitz einzunehmen. Vorhang.

Szenenwechsel: Ein letztes Mal hebt sich der Vorhang. War noch wahrscheinlich, dass in der zweiten Szene ein Auto zur Fortbewegung dient, so wird es sich im letzten Aufzug wohl um irgendetwas abgefahren Futuristisches handeln. Damit ist auch nicht mehr sicher, ob eine Autobahn, respektive Landstraße den Rahmen der Szene bildet. Aber wir sehen wieder den Jungen, wenngleich älter. Er sitzt am Steuer dieses Wunderwerks der Technik und ein Lächeln umspielt seine Lippen, wenn er beim Blick in den Rückspiegel den wachen Blick eines seiner Mitfahrer auf der Rückbank zur Frontscheibe hinaus erkennt. Der Vorhang fällt. Das Licht geht aus.

Applaus.

Hausaufgabe:
1. Erklären Sie, warum der Autor die letzte Stufe des Vergleichs nicht ausformuliert hat.
2. Lesen Sie sich die Szenen noch einmal durch, und entwerfen Sie bis zum nächsten Blogbesuch einen möglichen Dialog zwischen Fahrer und dem Jungen.

Viel Erfolg!

Samstag, 4. August 2012

Übertriebene Großohrigkeit

Nein, das hier ist kein Kommentar zur stiefmütterlichen Naturanlage, die ein gewisser Prinz Charles dieser Tage zu Olympia wieder häufiger zur Schau stellt. Es geht vielmehr um etwas, das mir immer wieder begegnet und bei dem ich mich immer wieder frage, wie man auf die Idee kommen kann, sowas freiwillig mit sich anzustellen. Körperschmuck ist eine heikle Sache, die einen sind dafür die anderen dagegen, mir ist es weitgehend egal, was die Leute so mit ihren Körpern anstellen. Obwohl, hin und wieder ertappe ich mich dann doch beim (mentalen) Kopfschütteln.

Vor ein paar Jahren war Pearcing in und auch das nahm und nimmt teilweise bizarre Formen an. Doch gehören zum Glück bis auf einige wenige Ausnahmen die Leute mit mehr Blech im Gesicht als jeder normale Mensch für möglich halten sollte mittlerweile der Vergangenheit an. Tattoos sind der Dauerbrenner und sieht man sich die EM noch einmal genauer an, könnte man meinen, heute komme es neben spielerischem Können vor allem auf eine möglichst umfassende Kartierung der eigenen Haut an. Nicht ein Team dabei, dass nicht wenigstens einen Spieler dabei hatte, dessen Arme wie eine Plakatwand aussahen. Das ist eigentlich die Sponsoringmarktlücke: In Zukunft braucht es keine  Banden- oder  Trikotwerbung mehr, jeder Spieler lässt sich seine Sponsoren einfach direkt in die Haut einritzen und schon gibt's auch keine Streitigkeiten mehr, wie lange der Werbevertrag laufen soll. Aber ob nun Teletubbies oder "I love Mum", auch daran habe ich mich mittlerweile irgendwie gewöhnt.

Was mich aber nach wie vor in Staunen versetzt ist das in letzter Zeit sich mehrende Auftreten überdimensionierter Ohrverschönerungen. Obgleich auch einige Europäer es mit dem Nichtkleidungsornat ziemlich übertreiben...als erstes fielen mir da doch immer diese Südseevölker ein, die sich mit Vorliebe Tonscheiben in die Unterlippe...oder auch diese an Giraffenhälse erinnernenden durch Metallringe gestreckten Kopf-Schulter-Verbindungen. Ich habe mir mal sagen lassen, dass die Halswirbel irgendwann so schwach sind, dass es die Ringe braucht, damit den Frauen der Kopf nicht dauerndvom Hals auf die Brust fällt. Was man dort noch als Brauchtum und fremden Kulturkreis entschuldigt, wirkt nach Europa transferiert, als hätten sich die Leute ihre Radfelgen fälschlicherweise in die Ohren gedübelt. Dass der Ohrschmuck teilweise monströse Formen annimmt ist nichts Neues, nur war das bisher immer unterhalb des Ohrläppchens der Fall. Ich erinnere nur an die Modelle "Riesenreifen", bei denen man dachte, dass die jeweilige Dame sich diese wenn nötig lässig über den Kopf stülpen könne oder, auch sehr schön, "Esstischkronleuchter", bei dem ich mich immer gefragt habe, ob die eigentlich durch Kerzen erweiterbar sind.

Aber zurück zum neuesten Trend. Diese neuen Dinger begnügen sich nun nicht mehr damit, unterhalb des Ohres auszuufern, nein, sie sparen sich diesen Umweg und werden gleich im Ohrläppchen riesig. Allerdings scheint es da auch je nach Geschmack verschiedene Größen zu geben. Fragt sich nur noch, ob der Träger das nach eigenem Gutdünken entscheiden darf, oder, was ich ebenfalls für plausibel halte, eine gewisse Hierarchie innerhalb dieses erlesenen Zirkels (man beachte das Wortspiel) herrscht. Je nach Verdienst um die gemeinsame Sache entschiede sich dann, wie groß die jeweilige Radfelge ausfallen darf. Zugleich ist so gesichert, dass die Jünger untereinander die Rangfolge erkennen können. Je nach dem, ob das Gegenüber einem über- oder untergeordnet ist, besitzt es größere oder kleinere Ohrreifen als man selbst. Ja, das wird es sein: Ein erlauchter Geheimbund, der sich anschickt, alle Körperaccessoirs nur noch in absurder Größe zur Verfügung zu stellen. Damit man es auch ja nicht übersieht.

Nun ja wie dem auch sei, ob zufälliger Modetrend oder Ohrringilluminati, mir bleibt letztlich nur die Frage offen, was passiert, wenn die Leute eines Tages einen neuen Körperkult pflegen möchten. Ein einfacher Ohrring, egal wie pompös er außerhalb des Ohrs wird, hinterlässt kaum mehr als ein unscheinbares Loch, das nach ein paar Jahren wieder zuwächst. Was aber geschieht mit diesen Affenschaukeln in den Ohren? Da sieht Prinz Charles dann doch ganz annehmlich aus...Vielleicht hätte der eine oder andere gut daran getan, einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden, bevor er mit wehenden Fahnen zum Körperkünstler um die Ecke ging. In Zukunft wird es jedenfalls etwas Anderes sein, das im freien Spiel des Windes weht.

Donnerstag, 12. Juli 2012

Die mysteriöse Kraft im Bundestag


Eine äußerst merkwürdige Geschichte ist das. Da befindet man sich noch im EM-Taumel und keiner ahnt etwas Böses und dann kommt man zurück und erfährt, dass nun auch mit staatlicher Unterstützung der eigene Datensatz in alle Winde verstreut wird. Danke, könnte man sagen: Das, was ich mit facebook und Co.aus eigener Kraft schon betreibe, das wird jetzt staatlich gefördert. Vielen Dank! Da soll sich noch mal einer beschweren, dass die Politik kein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihres Stimmviehs hätte. Nein, haben sich da unsere Damen und Herren der Politik gedacht, machen wir unseren Bürgern doch eine Freude, noch besser, wir machen eine Überraschung daraus. Wenn sie dann, frohen Mutes oder vielleicht auch niedergeschlagen vom Ergebnis der Nationalelf in den Alltag zurückkehren, dann finden sie quasi ein gemachtes Bett vor.

Aber nein, das wäre nicht fair, so etwas von unseren Damen und Herren Politikern zu denken, wenn man ihre Äußerungen hört, könnte man eher auf den Gedanken kommen, dass sie genauso überrascht vor vollendete Tatsachen gestellt waren wie wir Ottonormalverbraucher. Da hat man sich leidlich mit einer Lösung zum Besuch oder Nichtbesuch des einzigen Feindes der Menschenrechte in Europa arrangiert. Und dann wendet man sich wieder anderen Themen politischer Brisanz zu und merkt, dass hinter dem eigenen Rücken jemand (Ja, wer denn eigentlich?) einfach so eine Veränderung des Melderechts durch den Bundestag gewunken hat... Wir von der Opposition? Nein, da haben wir bestimmt nicht zugestimmt! Wir von der Regierung? Nein, also sowas, wir kämen nie auf die Idee! Interessant. Es muss also eine mysteriöse dritte Fraktion gegeben haben, die, klammheimlich, wenn keiner hinsieht, Entscheidungen trifft und zwar genau dann, wenn es unangenehm wird. Ja, eine wirklich interessante These. Mir bleibt an dieser Stelle nur, mir wieder einmal vor die Stirn zu schlagen und darauf zu bauen, dass in Zukunft diese merkwürdige, geheime Kraft ein Einsehen mit uns und den armen Politikern hat, die halt auch nicht immer ihre Augen überall haben können. Schon gar nicht im Bundestag. Ihnen bleibt zu wünschen, dass sie in Zukunft Zeit finden, den Sitzungsplan etwas genauer zu studieren.

Freitag, 1. Juni 2012

Ist die Kapselszene in „Matrix“ ein Teil der realen oder der Scheinwelt?


Dieser Text ist aufgrund eines Gedankenspiels, zu dem uns einer unserer Philosophiedozenten aufgefordert hat, enstanden. Wie die Überschrift vermuten lässt, geht es um den Spielfilm „Matrix“, der wohl schon den einen oder anderen Philosophie-Interessierten beschäftigt hat. Der theoretische Hintergrund ist nach wie vor Descartes' Dualismus von Körper und Geist.

Eine kurze Erklärung für die, die den Film nicht mehr genau in Erinnerung haben und für die, die ihn überhaupt nicht kennen: Der Protagonist Neo, der bis dahin ohne sein Wissen in der von Maschinen erschaffenen virtuellen Welt der Matrix gelebt hat, wird von Morpheus, der sich sowohl in dieser virtuellen Welt als auch in der Welt außerhalb der Matrix bewegt, vor die Wahl gestellt, ob er ebenfalls den Schritt aus der Matrix heraus unternehmen will. Das Treffen zwischen beiden findet innerhalb der Matrix, in einem verlassenen mehrstöckigen Haus statt. Morpheus und Neo sitzen sich in einem Raum in zwei Ledersesseln gegenüber. Morpheus hat zwei Kapseln bei sich, von denen die rote Neo den Weg aus der Matrix ebnet, die blaue hingegen seine Erinnerungen an das Zusammentreffen löscht. Neo entscheidet sich für die rote Kapsel.

Der Dialog zwischen Morpheus und Neo im verlassenen Haus gehört zweifellos zu den Schlüsselszenen des Films, in der sich für Neo bestätigt, dass seine Zweifel an seiner Welt nicht grundlose Paranoia, sondern berechtigt sind. Morpheus, bezeichnenderweise sowohl mit dem Namen des griechischen Gottes des Traumes, als auch mit seiner Insignie, einer Kapsel, ausgestattet, bietet Neo die „Wahrheit“ an. Die Wahrheit bedeutet hier, dass er in einer Scheinwelt gelebt hat, die als Gefängnis seines Verstandes dient.
 Auf die Frage, ob dieser Moment nun zur realen oder zur Scheinwelt des Films gehört, würde ich antworten, dass er in gewisser Weise zu beidem gehört. Das Haus und auch das Zimmer sind, wie Morpheus sagt, Teil der Matrix, die eine traumähnliche, virtuelle Welt darstellt, in der die Menschen vom Aufwachen abgehalten werden. Auch das Aussehen der Protagonisten gehört, wie sich später herausstellt, zu den Illusionen, die diese Welt erzeugt. Selbst die Kapseln, zwischen denen Neo wählen soll, sind höchstwahrscheinlich nur Schein. Zusammenfassend träumt Neo, er sitze mit Morpheus in zwei roten Ledersesseln, um zwischen Matrix und „echter“ Welt zu wählen. Was aber in meinen Augen etwas Anderes darstellt, ist Neos Entscheidung die rote Kapsel zu schlucken. Weniger der Akt des Kapselschluckens, der ja geträumt ist, als viel mehr die Entscheidung selbst, die im Nachhinein zum Aufwachen Neos führt. Ich denke, dieser Willensakt kann nicht von der ihn umgebenden Matrix stammen, weil er in direkter Linie dem Ziel der Matrix, die Menschen sediert zu halten, widerspricht und im Film sieht es so aus, als ob Neo danach in der realen Welt aufwacht. Sicher kann man sich da natürlich nicht sein, es könnte sich auch um einen geschickten Auffangmechanismus für Skeptiker handeln.

Descartes würde an dieser Stelle vermutlich zustimmen und darüber hinaus noch einwenden können, dass Neo, hätte er gründlicher nachgedacht, nur sicher wäre, dass er selbst existiert, insofern er an der Matrix zweifelt. Morpheus und die umgebende Welt könnten eine Täuschung der Matrix sein. Die Matrix , die ja in gewisser Weise die Rolle des deus malignus übernimmt, könnte ihm freilich auch die Entscheidung und vor allem den erfolgreichen Austritt aus der Matrix nur vorgegaukelt haben, während er in Wirklichkeit nur in eine „zweite“ Stufe der Matrix gewechselt ist. Insofern wäre die Täuschung der Matrix natürlich noch wirkungsvoller, weil Neo vermeintlich befreit, wohl wenig Zweifel an seiner neuen Welt hegen würde.
Mir scheint sich die Frage gerade in die Richtung zu verschieben, wie viele Scheinwelten es tatsächlich gibt. Die Existenz einer realen Welt würde ich zumindest deswegen voraussetzen, weil nach meinem Verständnis jede virtuelle bzw. geträumte oder erdachte Welt einen Ursprung braucht. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass die Welt, in der Neo nach der Kapselszene aufwacht, diese sein muss. Tatsächlich können wir ja sogar festhalten, dass sie der Ursprung nicht sein kann, weil sie lediglich die fiktionale Welt eines Drehbuchs ist.

Ich würde mich aber abgesehen von solchen weiterführenden Überlegungen weiterhin dafür entscheiden, mit einem „beides“ zu antworten. Das konkrete Aussehen der Kapselszene gehört zur Scheinwelt, die die Protagonisten durchschreiten, was aber Teil der realen Welt ist, ist Neos sich bestärkende Zweifel an der Matrix und schließlich seine Entscheidung, aus der Matrix heraustreten zu wollen, unabhängig davon, wie erfolgreich seine Bestrebungen nun gewesen sein mögen.

Montag, 28. Mai 2012

Sum, sum, sum, René sum herum

Wieder einmal hat es sehr lange gedauert, bis ich mich ans Schreiben gemacht habe und in letzter Zeit war weniger der Mangel an Ideen, sondern eher ihr Überfluss und ihre jeweilige Unausgegorenheit das Problem. Daher werde ich sie nun einfach abarbeiten, damit Platz für Neues entsteht.

Als erstes und deswegen schon fast nicht mehr wahr, waren die Piraten für mich ein interessantes Phänomen. Ob sie nun frischen Wind oder einfach nur ein laues Lüftchen von kurzer Dauer im Politikalltag sein werden, muss sich noch zeigen, spannend finde ich jedoch die Reaktionen sowohl von Seiten der etablierten Politik, als auch aus den Medien. Die Piraten hatten noch nicht ganz ein Parteiprogramm gefertigt, da flogen ihnen schon die Wähler zu, weil sie so schön neu und frech sind. Nachdem es eine ganze Weile gedauert hatte, bis die Etablierten sich ernsthaft mit ihnen beschäftigten, zeigte sich relativ schnell, dass sie nicht wussten, wie sie mit den Piraten umgehen sollten. Und in eben dieser Behäbigkeit liegt vielleicht auch der berechtigte Kritikpunkt der Piraten. Von einem abschätzigen „das sind die ,Linken mit Internetanschluss' “ über ein drohendes „der Welpenschutz ist vorbei“ war alles zu haben. Und immer wieder wurden sie auf der peinlichen Pressekonferenz festgenagelt, in der sich tatsächlich jemand fand und vollmundig erklärte, dass eine Partei nicht auf alles eine Antwort haben müsse. Tatsächlich muss eine Partei nicht auf alles eine Antwort haben, sofern dieses alles gleichbedeutend mit einem „Gott und die Welt“ ist, trotzdem kommt einer Partei, sogar verfassungsmäßig festgehalten, die Aufgabe zu, zu allen gesellschaftlich relevanten Themen eine Antwort zu haben. Und ein Finanzpolitisches Konzept gehört definitiv zu den gesellschaftlich relevanten Themenfeldern. Deswegen finde ich auch weniger die inhaltliche Aufstellung, geschweige denn die personelle, bemerkenswert, als vielmehr den Versuch der Piraten, einer direkten Teilhabe von interessierten Menschen an den parteiinternen Entscheidungen. Natürlich ist dies kein grundlegend neues Konzept, schließlich geht es jeder anderen Partei auch darum, Artikulations- und Teilhabeforum der Bürger zu sein, jedoch gelingt dies den Piraten in letzter Zeit wohl auf eine anziehendere Weise als anderen Parteien.

Diese Anziehungskraft scheint auch auf die Medien auszustrahlen, was bei ihnen allerdings eine etwas eigentümliche Ausprägung erfährt. Keine Meldung, ohne das jemand versucht, eine nautische Metapher in eben jener unterzubringen. Die Piraten selbst geben dem ja auch Vorschub mit einem Motto wie „Klar machen zum Ändern“. Dennoch wirkt das Ganze angestrengt und lächerlich, weil es einerseits nicht die Sache trifft, schließlich sind die Piraten in erster Linie eine Partei und keine Schiffsbesatzung, und andererseits das Ganze so kindisch wirken lässt, dass man nicht weiß, ob der Journalist oder die Piraten ein Bonbon für ihre Taten erwarten. Hier also gilt: Klarmachen zur Vokabularwende.

Neulich in der Philosophie-Vorlesung. Man sitzt mit offenen Augen und bemüht offenem Geist im Hörsaal, während draußen das schöne Wetter an einem vorbeizieht. Descartes heißt der Held der Stunde und allein die Aussprache scheint wohl dem einen oder anderen Schwierigkeiten zu bereiten („Die Franzosen lassen doch da immer so was weg, am Ende von ihren Wörtern“). Es mag erstaunlich klingen, aber meistens folgt dieses So-was-weg-lassen gewissen Regeln, in diesem Fall, bei dem es sich um einen Eigennamen handelt, greifen diese leider meistens nicht. Insofern verdankt René, so sein Vorname, den folgenden, nicht korrekt transkribierten Nachnamen [ Dekart ] wohl vor allem einem tradierten Konsens. Viel interessanter aber als die Namensbildung und -aussprache im Französischen ist für den Philosophen die Frage, was hat er gesagt, der René. Und tatsächlich ist die Frage, der Descartes nachgegangen ist, eine Überlegung wert, sofern man sich für Überlegungen erwärmen kann, die dem alltäglichen Blickwinkel teils zuwider laufen.

Was ist es denn, von dem ich sicher sein kann, das es wahr ist? Es heißt „Meditationen“ und beginnt fast wie ein Grimmsches Märchen. Der junge René Descartes zieht aus um ein Abenteuer zu erleben. In diesem Fall ein erkenntnistheoretisches und er zieht auch nicht aus, sondern in seine lauschige Hütte hinein, um sich von allem frei zu machen, was ihm im Leben so beigebracht worden ist. Das zu finden, von dem er sicher sein kann, das es nicht bloß Einbildung ist, ist sein Ziel. Entscheidend sind da zwei Gedanken, der erste, auch als das „Traumargument“ in die Geschichte eingegangen, besagt, dass alles, was von den Sinnen kommt, jedwede Wahrnehmung auch Trug sein könnte. Denn wenn Descartes nun träumte, statt zu wachen, dann müsste er seine warme Hütte, das Kaminfeuer, Kleidung und alles weitere für wahr halten, obgleich er gemütlich in seinem Bett liegt und schläft, bis er aufwacht. Gewisse Cineasten mögen sich da an einen bleichen Hacker namens Neo erinnert fühlen. Ausgehend von diesem Gedanken muss also die Wahrnehmung paradoxerweise zur Findung der Wahrheit ausscheiden.

Was bleibt da noch, auf das man sich verlassen kann? Nun, Descartes kommt auf seinen Geist, der, egal ob der Rest-René schläft oder nicht, immer noch nur dreieckige Dreiecke denken kann. Will sagen, solche Ideen, die aus dem Geist entspringen, und da rechnet Descartes großzügig die gesamte Mathematik dazu, denn jede mathematische Operation gelingt auch, wenn man nichts um sich herum wahrnimmt. Nebenbei für sich genommen ebenfalls eine interessante Erkenntnis. Aber Descartes wäre nicht Descartes, wenn er nicht auch dies in Zweifel zöge. Was, sagt er sich, wäre, wenn nicht mal das stimmt? Wenn ein böser Geist ihm einflüsterte 2+2 sei 4, dabei ist es 5? Nach diesem bösen Geist heißt Descartes zweites Argument denn auch „Argument vom bösen Gott“. Nun hat Descartes also erfolgreich Wahrnehmung und auch das Denken als Quelle der Erkenntnis ausgeschaltet, allerdings sieht es nun ganz schön duster aus. Wenn man weder seinen Augen noch dem eigenen Kopf trauen kann, was bleibt dann noch? Hier liegt die Anziehungskraft des cartesianischen Gedankengangs. Für ihn heißt es nun, wenn auch der böse Geist ihn über alles täuschen mag, so muss es doch zwangsläufig jemanden geben, den der böse Gott täuscht. Das, sagt Descartes, sei er. Auf die griffige Formel „cogito, ergo sum“ gebracht, ist dieser Satz bis in unsere Zeit bekannt.

Wie so oft, wenn die Philosophen versuchen das, was sie meinen, verständlich zu machen, passiert aber auch hier eine Verkürzung. Zwar hat Descartes tatsächlich „cogito, ergo sum“ gesagt, aber nicht in den Meditationen, sondern viel später. Eigentlich heißt es: „Ich bin, ich existiere“ und ist insofern auch unzweifelhafter, denn der eigentliche Gehalt der cartesianischen Erkenntnis ist die Selbstexistenz, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das lässt sich aber auch kürzer fassen, denn „ich bin, ich existiere“ ist in der Originalfassung lateinisch und heißt dementsprechend „ego sum, ego existo“ und das wiederum ist nach einiger schon fast mathematisch anmutender Arbeit auf „sum“ reduzierbar.So gehaltvoll das nun scheint, mindestens ein Problem ergibt sich daraus sofort. Denn Descartes hat nur seine eigene Existenz damit unzweifelhaft für sich gemacht, alle anderen Menschen sind davon ausgenommen, denn sie könnten nach wie vor Täuschungen sein, dieses Problem wird lange nach Descartes Solipzismus genannt werden.

Diese Geschichte blieb mir nun mehrere Tage im Gedächtnis, vor allem aber verfolgt mich seither hartnäckig ein Gedanke, der sich vor meinem geistigen Auge in Folge der begrifflichen Rechenarbeit des Dozenten (ego existo = ego sum, ego sum = sum) formuliert hatte. Was, wenn Bienen die letzten aufrechten Cartesianer sind? Eigentlich muss es so sein, warum sonst, sollte man den ganzen Tag Descartes' berühmtes Dictum den ganzen Tag vor sich hin sagen? Mit dieser ersten und möglicherweise auch einzigen „Schlechte-Wortspiele-Zeit*“ auf diesem Blog schließe ich diesen Eintrag und hoffe, dass ich nun wieder ruhiger schlafen kann, ohne von Bienen in meine Träume verfolgt zu werden und möglicherweise auch wieder Platz für vernünftige Gedanken geschaffen zu haben.

*Dies ist ein nicht von mir geprägter Warennahme, den ich hier nur ausgeliehen habe, weil es in diese Kategorie fällt.

Donnerstag, 1. März 2012

Manchmal...

Manchmal braucht es nur die richtige Umgebung und die Gedanken bewegen sich von allein so sehr, wie man es manchmal nicht durch Anstrengung bewirkt.

Von außen sah es aus wie einer dieser riesigen Glaskästen, die einem das Gefühl betonter Modernität vermitteln, und bei mir immer auf eine gewisse Abwehrreaktion gestoßen sind. Auch der Eingangsbereich wirkte eher wie die Eingangshalle eines Bahnhofs oder einer dieser geschniegelten Banken, inklusive des dort anzutreffenden geschäftigen Treibens. Nur das übergroße Goetheportrait vermittelte mir einen ersten Eindruck davon, dass ich mich weder im einen, noch im anderen befand. Ein Blick nach oben zeigte mir, dass vier Etagen über mir darauf warteten, genauer untersucht zu werden.

Nachdem ich die Einlassformalitäten hinter mich gebracht hatte, namentlich die Ablage der mitgebrachten Tasche und Jacke in einem Spint, begab ich mich in das dritte Obergeschoss, das vorläufige Ziel meines Besuchs. Die hölzernen Stufen waren abgewetzt und blank poliert von all den Füßen, die sie jeden Tag auf dem Weg nach oben und nach unten betraten. Oben war es viel ruhiger, obgleich hier nicht viel weniger Menschen unterwegs waren, als am Eingang. Der Raum war groß, mit Teppich ausgelegt, im Gegensatz zum steinernen Boden im Erdgeschoss. Er dämpfte meine Schritte und ich ließ meinen Blick über die Einrichtung schweifen, ein paar Rechner und viele, sehr viele Regale. Die Außenwände ließen das Tageslicht herein, das als erstes auf Tischreihen an den Raumseiten traf. Als ich zwischen die Regale trat, hatte ich das Wort vom "säkularen Gewisper der Bücher" von Umberto Eco im Ohr.
Und je länger ich in der Bibliothek saß, je länger ich in den Werken blätterte, die mir für meine Arbeit vielversprechend erschienen, desto mehr konnte ich nachvollziehen, was er wohl gemeint haben könnte.

Jeder neue Gang, der mich zwischen die Regale führte, ließ mich das Gefühl spüren, dass sonst immer beim Blick in den Sternenhimmel, auf dem Meer oder am Fuß großer Berge auftauchen soll, das Gefühl, dass man selbst nicht einmal einen Fingerhut voll dessen erfahren hat, was die Welt ausmacht. Den ganzen Tag lang las ich und je länger ich las, desto deutlicher wurde mir, wie viel mehr es zu lesen gab. Jeder neue Tag verging wie im Flug und trotzdem hatte ich das Gefühl, wieder ein wenig weiter fortgeschritten zu sein als am Abend zuvor. So viele Bücher, neue wie alte auf einem Fleck und diese allumfassende Ruhe machten diesen Ort zu einem Platz, an dem ich mich so gern aufhielt, wie kaum an einem zweiten sonst. Am Anfang war mir eine ganze Woche lang erschienen, doch hinterher verging sie in einer rasenden Geschwindigkeit. Zum Glück habe ich noch ein paar Jahre vor mir, in denen ich noch mehr Zeit an einem solchen Ort verbringen kann.

Mittlerweile habe ich auch eine neue Idee zur Glasfassade, die mir besser gefällt. Mit der Glasfassade ist es wie mit einem guten Buch: Der Umschlag lässt jemanden einen Blick auf den Inhalt werfen, es steht ihm danach frei, hineinzutreten oder nicht. Wenn man aber Ersteres tut, wird einem erst dann bewusst, dass es drinnen noch viel größer ist, als einen der Umschlag vermuten ließ.

Freitag, 10. Februar 2012

Warum hast Du so einen roten Fleck auf der Stirn?

Hier sitze ich nun zwischen meinen Klausurvorbereitungen, aber was mich wirklich beschäftigt, dass spielt sich woanders ab.

Nicht nur dass wir uns mit beratungsresistenten Akteuren im Finanzmarkt herumschlagen müssen, nein, auch die Politik nimmt zunehmend deren Habitus an, ja, scheint sich gerade zu danach zu sehnen, nicht länger Verantwortung für die Gemeinschaft, sondern eher für sich selbst zu übernehmen. Ein vor sich hin scheidender Bundespräsident, der zwar nichts nachweislich Illegales tat, aber sicherlich nicht "geradlinig" gehandelt hat. Nein, im Gegenteil, das Amt, das er bekleidet, hat er so sehr in Verruf gebracht wie lang niemand mehr. Obwohl das eigentlich nicht stimmt, denn was er in Verruf bringt, das ist seine Person selbst. Das Amt leidet aber auch darunter, denn zunächst wurde es von einem zurückhaltenden Amtsträger ausgeübt, der dann zu allem Überfluss nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird, nicht nur das, sondern sogar auch noch in aller Öffentlichkeit wortbrüchig wird, wenn er nicht gerade zu den Vorwürfen schweigt. Zunächst verspricht er eine vollständige Beantwortung der an ihn gerichteten Fragen der Presse, dann aber lässt er nur eine Zusammenfassung veröffentlichen, man beachte: lässt.

Und noch etwas beschäftigt mich. Es ist noch nicht lange her, da nahm die Weltöffentlichkeit mit einiger Überraschung die Enthaltung der Bundesrepublik in Sachen Libyen auf und nun plustert sich unser Außenminister auf, wenn, wie nicht anders erwartet, Russland und China ihr Veto gegen eine UN-Resolution zum Thema Syrien verkünden. Eine in der Tat herbe Schlappe, aber doch keine Überraschung, wo sich doch deutlich abzeichnet, dass die UN kaum handlungsfähig sein kann, wenn zwei Staaten, die die Menschenrechte nicht allzu weit oben auf ihrer Agenda tragen, mit ihrer Stimme das Gremium blockieren können. Russland scheint doch noch nicht gänzlich über die Vergangenheit hinweggekommen zu sein, zumindest lassen die Vorwürfe Putins nach den Aufständen nach der Duma-Wahl, diese seien von den USA inszeniert worden, darauf schließen. Und so müssen wir uns ein hämisches Grinsen des Assad-Regimes gefallen lassen, das es als eine Schlappe der westlichen und arabischen Verschwörer bezeichnet, wenn die geballte Macht der Weltöffentlichkeit verpufft. In einem hat Syriens derzeitige Führung recht: Es ist eine Schlappe, aber nicht für eine ominöse Verschwörung, sondern für eine Politik, die sich nicht allein von "politischer Taktik", sondern vielmehr von Idealen leiten lässt, wie die Menschenrechte nun mal eigentlich welche darstellen sollten.

Aber woher soll diese in Zeiten kommen, in denen der Westen schon mit sich selbst mehr als genug beschäftigt ist, weil er es nicht fertigbringt, sich vom Götzenbild Markt und seinem Propheten Wachstum zu lösen. Wir mögen den religiösen Mythos der Antike und des Mittelalters überwunden haben, aber wir haben das mythologische Denken nicht verlernt, sondern uns nur neuen Ammenmärchen zugewandt, die noch dazu nur wenigen tröstlich erscheinen dürften.