Dienstag, 18. September 2012

Lehrer - Ein Drama in drei Aufzügen

Es ist schon seltsam, was einen manchmal so packt und gedanklich festhält. Jedenfalls bemühe ich mich immer noch, vollends auszuloten, wie tief die Verwandschaft von Autofahren und Lehrerdasein geht.

Seit einigen Tagen mache ich ein Praktikum an einem niedersächsischen Gymnasium und neben einer Menge neuer Eindrücke hat sich vor allem dieser Vergleich eingeprägt, von dem ich bisher glaube, dass er den Weg eines Lehramtsstudenten recht treffend beschreibt. Oder schränken wir es ein wenig ein: Meinen Weg.

Es ist Abend und wir befinden uns, was für manchen ein Novum darstellen mag, in einem Theater. Die typische Stimmung vor dem Beginn eines Stückes herrscht. Die Zuschauer sind damit beschäftigt, ihre Plätze zu finden: "Entschuldigen Sie bitte, ich müsste hier durch! Dankeschön" "He, mein Kleid!" "Pardon."... "Ach Gott, Hermann, ich habe Dir doch gesagt, dass wir uns hier auf der falschen Seite befinden! Auf der Karte steht ganz eindeutig: links!" "Dein Links oder mein Links?". Sie tauschen sich über Gerüchte die Inszenierung betreffend aus oder über Alltägliches: "Nein, nein ich habe gehört, dass heute mal keine Nackten zu sehen sein sollen", "Na, immerhin." Dann wird das Licht über dem Publikum gedimmt und im Auditorium kehrt gespannte Ruhe ein. Die Scheinwerfer leuchten auf und lassen die Bühne erstrahlen. Das obligatorische Husten eines Zuschauers zerreißt die Stille, dann geht der Vorhang auf.

Erster Aufzug: Der Ort: Eine Autobahn oder Landstraße. Darauf mehrere Fahrzeuge. Der Blick in eines der Autos ist frei. Hinter der Fahrerin/dem Fahrer (nicht Zutreffendes bitte ausstreichen)  sitzt auf der Rückbank, wie es sich bis zu einer gewissen Körpergröße gehört, ein Junge und ist, wie so oft weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Dieser Junge hat, und da stünde ihm ein Mädchen in nichts nach, zwei Möglichkeiten, sich die Zeit während der Fahrt zu vertreiben: Entweder blickt er, wie wohl die meisten, zur Seite hinaus oder in ein Buch (möglich) oder sogar auf einen Bildschirm (zunehmend wahrscheinlich). Wählt er diesen Weg, ist die Geschichte vorerst erzählt, gesetzt den Fall, man möchte sich an dieser Stelle nicht darüber auslassen, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn das gesamte Leben durch Elektronik, so scheint es, bestimmt wird. Fußnote: Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie, die die These beweist, es handele sich bei Iphone und Co. weniger um eine Gegenstandsbezeichnung, als viel mehr um eine Beschreibung einer auffälligen Verhaltensänderung (Manche mögen sogar sagen: Verhaltensstörung), stehen noch aus.
Doch soll solches hier nicht Gegenstand sein.

Zurück zu unserem Jungen: Stellen wir uns weiterhin vor, nach seiner Verortung in einem sich mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegenden, vierrädrigen Vehikel, das vermittels der Kraft bereits seit Jahrmillionen verstorbenen, organischen Materials seinen Weg nimmt, und der danach getroffenen Feststellung, er habe sich trotz aller von dieser ausgehenden Versuchung gegen die schnöde, immer elektronischer und immer flacher werdende Unterhaltung durch Smartphones, tragbare Konsolen, usw. , aber auch gegen die seit Jahren unpopulärer werdende Ergötzung entschieden, die sich vor allem jene auf Zellulose und darauf aufgetragene Farbpigmente gestützte Folianten zu suggerieren sich herausnehmen, so bleibt schließlich nur eine Möglichkeit übrig, die zu wählen der Junge in der Lage sich befindet: Er blickt zur Windschutzscheibe hinaus. Setzen wir darüber hinaus voraus, dass an diesem Tage gutes Wetter und nicht allzu viel Verkehr herrscht, so ließe sich denken, der Junge habe einen recht guten Ausblick auf die vor ihm liegende Wegstrecke. Sind wir so frei, und gestehen diesem Jungen, dem bereits erwähnten Mädchen mag das auch geschehen, die entsprechende Menge Grips zu, die es erfordert, die metaphorische Kraft dieser Aussicht zu erkennen, so haben wir in etwa die Situation, in der ich mich in Rückschau auf mein früheres Selbst gerade befinde: Der Junge sitzt auf der Rückbank des Wagens angeschnallt, hat also keinen Einfluss darauf, wohin es geht. Aber er kann sich ein Bild davon machen, wohin der Fahrer will, den er im Übrigen auch gut beobachten kann. Und zum ersten Mal mag sich dieser Junge darüber Gedanken machen, ob ihm das Ziel zusagt. Achtung: Erste Stufe des Vergleichs:
Der Junge ist also gewissermaßen Schüler, der dem Lehrer, also dem Fahrer des Wagens, dabei zusieht, wie dieser jenen zum Ziel fährt/führt. Vorhang.

Szenenwechsel: Das Auto, das wir zuvor gesehen haben, hat sich verändert. Ob es nur in die Jahre gekommen, oder durch ein neueres und moderneres Modell ersetzt worden ist, wie es immer wieder der Fall ist (Gerade im Bildungswesen!) bleibt der Vorstellung des Zuschauers überlassen. Die alte Straße dürfte mittlerweile mindestens vierspurig ausgebaut sein. Auch Fahrer und Junge haben sich verändert: Nach Erreichen der dafür geforderten Körpergröße, hat der Schüler den Platz auf der Rückbank gegen den auf dem Beifahrersitz eingetauscht. Wohl hat der Fahrer auch so viel Vertrauen zu seinem Fahrgast gefasst, dass er nicht fürchtet, dieser könnte ihm urplötzlich in Gangschaltung oder gar Lenkrad greifen wollen. Wie dem auch sei, der Blickwinkel des Jungen hat sich verändert, ja, das zuvor vielleicht nur vage empfundene Gefühl, selbst einmal den Weg  bestimmen zu wollen, ist zu einem nicht zu leugnenden Wunsch und Ziel dieses Jungen geworden. Im günstigsten Falle handelt es sich um einen begnadeten Fahrer, der bereit und in der Lage ist, die Fragen des Jungen zur Führung des Wagens zu beantworten. Der Austausch zwischen Fahrer und Beifahrer, die sich neben dem Ziel ihrer Fahrt auch schon über den Weg und die Form der Fortbewegung unterhalten, dominiert die Szene. Ja, es mag sogar geschehen, dass während einer kurzen Pause, um sich die Beine zu vertreten, der Fahrer dem Beifahrer anbietet, selbst für eine kurze Strecke das Steuer zu übernehmen. Ermuntert durch die Aufforderung wird der Junge vielleicht sogar die Chance ergreifen und sich am Lenkrad probieren  Zweite Stufe des Vergleichs: Ein neugieriger und zugegebenermaßen auch etwas aufgeregter Praktikant, der Junge, sitzt mehrere Male auf dem Beifahrersitz und versucht, so viel wie möglich aus dem Wegstück mitzunehmen, das er da vom Fahrer präsentiert bekommt. Seine Mimik verrät dem aufmerksamen Zuschauer, dass es ihm hin und wieder in den Fingern juckt, den Fahrersitz einzunehmen. Vorhang.

Szenenwechsel: Ein letztes Mal hebt sich der Vorhang. War noch wahrscheinlich, dass in der zweiten Szene ein Auto zur Fortbewegung dient, so wird es sich im letzten Aufzug wohl um irgendetwas abgefahren Futuristisches handeln. Damit ist auch nicht mehr sicher, ob eine Autobahn, respektive Landstraße den Rahmen der Szene bildet. Aber wir sehen wieder den Jungen, wenngleich älter. Er sitzt am Steuer dieses Wunderwerks der Technik und ein Lächeln umspielt seine Lippen, wenn er beim Blick in den Rückspiegel den wachen Blick eines seiner Mitfahrer auf der Rückbank zur Frontscheibe hinaus erkennt. Der Vorhang fällt. Das Licht geht aus.

Applaus.

Hausaufgabe:
1. Erklären Sie, warum der Autor die letzte Stufe des Vergleichs nicht ausformuliert hat.
2. Lesen Sie sich die Szenen noch einmal durch, und entwerfen Sie bis zum nächsten Blogbesuch einen möglichen Dialog zwischen Fahrer und dem Jungen.

Viel Erfolg!