Freitag, 29. März 2013

Das Wort

Da saß er wieder einmal an seinem Pult, die Feder in der Hand, aber die Worte, sie wollten nicht kommen. Er hatte sie gebeten, sie hatten sich nicht gezeigt. Er hatte sie ignoriert, doch waren sie darin besser gewesen als er. Schließlich hatte er sie mit aller Gewalt auf's Papier zu bringen versucht, doch sie sträubten sich erfolgreich dagegen. Und so saß er wieder untätig vor einem neuen Bogen, nachdem er wegen der Wut über die eigene Unfähigkeit bereits mehrere Blätter zerknüllt und gegen die Wand geworfen hatte. Ein kleiner Haufen lag ihm nun gegenüber und grinste ihn höhnisch an. Natürlich konnte ein Haufen Altpapier, der vielleicht noch allenfalls als Schneeballersatz seinen Zweck haben mochte, nicht höhnisch grinsen, es war eher das Weiß, schneeweiß. So wie dieser aussah, wenn er sich gerade aus der Luft auf einen Zweig niedergesenkt hatte. Keine erkennbare Verunreinigung, keine Spur menschlichen Schaffens. Und genau das war es, was ihn zur Weißglut trieb. Wenn er wenigstens einen Strich auf den Blättern hinterlassen hätte. Ein rigoroser Schlussstrich quer durch die unbeholfenen Versuche, die Worte auf's Papier zu bringen, die nicht kommen wollten – nein, sie kamen nicht, wenn man sie rief. Dafür umso öfter, wenn man sie brauchte. Dann waren sie plötzlich da, kitzelten einen im Ohr und zauberten mit ihrer Wörterwärme ein Lächeln auf so manches Gesicht, tanzten einem vor den Augen so wild und zahlreich, das man sich fragen mochte, ob man überhaupt in der Lage sein würde, sie in Ordnung zu bringen. Vielmehr lief man Gefahr, von ihnen fortgerissen zu werden in einen euphorischen Taumel, der einem selbst, solange er anhielt, wie Sekunden erscheinen mochte, im Nachhinein sich aber als Stunden herausstellte, von dem andere aber nicht die leiseste Ahnung bekamen. Gesetzt den Fall, dass sie nicht diesem jemand höchst selbst auf der Nasenspitze herumtanzten.

Wörter kannten keine Zurückhaltung, egal wer sie, wo auch immer und wann auch immer äußerte. Sobald sie von der Zunge gesprungen waren, hielt sie niemand mehr auf, eigentlich war es auch schon auf der Zunge zu spät, wenn man es recht bedachte. Dort genügte ein unbedachtes Luftholen, denn sobald sie die Möglichkeit erkannten, nutzten Worte sie gleich. Nein, ihre Handhabung war nicht einfach, ganz zu schweigen von dem Versuch, sie auf eine feste Unterlage zu bannen. Sie liebten es nicht, denn eigentlich war ihnen das freie Schweben im Raum, die Sekunden und Sekundenbruchteile von plötzlicher Energie in denen sie sich drehten und wendeten, um dann erneut spurlos zu verschwinden, der liebste Raum. Ihnen fehlte auf dem Papier der warme Atem, der sie anbließ und ihnen die Kraft verlieh, bis in die höchsten Höhen aufzusteigen. Schnell umschmeichelten sie dann das Ohr eines anderen, wisperten leis' hinein oder traten sanft aber bestimmt auf, hin und wieder sogar, wenn sie besonders übermütig waren, nahmen sie ihre ganze Wucht zusammen und dröhnten im Kopf des Hörers, das er meinte, sich vor ihnen verschließen zu müssen. Doch das gelang nie wirklich gut. Wörter waren nicht dafür bekannt, trotz ihres heimlichen Daseins und nur plötzlichen Auftretens im Mittelpunkt, sich, wenn sie sich einmal den Weg gewählt hatten, von ihm abzuweichen. Oh, und nie nahmen sie etwas zurück, man konnte ihnen so viele weitere nachsenden wie man wollte, wenn sich dafür überhaupt welche hergaben. Die ersten die auftraten, hinterließen immer den bleibendsten Eindruck. Deswegen war es ja auch so wichtig, sie, wenn sie sich einem schon anboten, alle aufzunehmen und dann sorgfältig auszuwählen, welche man wann und wo wieder frei ließ.

All darüber dachte er so nach, während er mit erstarrter Miene und erstarrtem Schreibutensil an seinem Pulte saß. Er hatte wieder einmal umsonst gewartet. Er blickte noch einmal auf das immer noch weiße Blatt Papier vor ihm. Die so frohgemut ergriffene Feder, die nun nutzlos Zentimeter über ihrem Ziel verharrte. Er war gewissermaßen dem Schreiben so nah, wie man ihm nur sein konnte, ohne tatsächlich zu schreiben. Und doch hielt ihn eine unsichtbare, nicht zu durchbrechende Wand zurück. Er drückte unwirsch mit Daumen und Zeigefinger seiner Schreibhand gegen den Griff des Füllers. So kräftig, dass aus seinen Fingern schon das Blut wich und sie weiß wurden. Schon wieder weiß! Wie konnte eine so nichtssagende Farbe solche Wut hervorrufen? Entfernter konnte man dem Ausdruck nicht sein... Nichtssagend! Das war es, weiß war keine Farbe, um mit ihr zu sprechen. Unschuld und Reinheit haben nichts mit dem Sprechen gemein. Sprechen farbenfroh, war bunt, bei manchem auch schmutzig, aber nie war es so steril wie ein weißes Blatt Papier. Nur wer nicht zu sprechen wusste, dessen Blatt blieb weiß. Habe ich denn zu sprechen verlernt?! Bin ich nicht deswegen überhaupt hier her getreten? Warum sollte ich Stift und Papier, seit Alters her die zweitliebste Form der Kommunikation ergreifen, wenn nicht um damit zu sprechen? Also, ihr vermaledeiten Wörter kommt! Ich habe alles getan, was ich kann, damit ihr mich einmal wieder besucht. Was habe ich euch getan, dass ihr mich meidet? Dann, ganz langsam, er bemerkte es zunächst nicht, sammelte sich ein wenig Tinte an der frisch geprüften Feder. Langsam wurde es mehr bis ein einzelner Tropfen tief blau sich bereit machte, von der Spitze sich zu lösen. Ein seltsamer Lichtreflex erregte die Aufmerksamkeit des Schreibers. Gerade als er sich diesem zuwandte, hüpfte der Tropfen. Nur einer. Der Schreiber hielt den Atem an. Und mit einem nahezu ohrenbetäubenden Krachen traf die Tinte das Papier, um sich in rasender Geschwindigkeit darauf auszubreiten.

Winzige Äderchen bläulichen Lebens suchten sich einen Weg durch das faserige Material der Zellulose. Vor den ungläubigen Augen des Betrachters gab das Papier nach und wie auf einem See, in den man einen Stein wirft, strebten Wellen dem Rand des Blattes zu. Tiefes Blau breitete sich aus nur um kurz darauf abgelöst zu werden von schnell wechselnden Bildern, sodass das Papier zum Kaleidoskop noch nicht gekannter Welten wurde. Dort lag ein großer See, sodass der Schreibende zunächst noch glaubte, bloß Tinte zu schauen und sich noch fragte, wie ein einzelner Tropfen solche Ausmaße annehmen konnte. Doch dann war da ein fahles, klares Licht im Blau. Ein Mond. Er erhellte das Blau des Himmels, sodass man dessen Bläue erahnen konnte, während das darunter liegende Gewässer, so schwarz wie die tiefsten Tiefen des Kosmos wirkte. Und noch während dieser Gedanke im Kopf des die Feder Haltenden Gestalt annahm, zeigten sich auf der Oberfläche nun kleine Lichter diffus zunächst, doch dann immer konturierter. Sie schlossen sich zu Gruppen zusammen, mochten wohl Galaxien und Nebel bilden. Dann verloren sie sich in neuerlichem Nebel, der ihre Helligkeit zunächst schwächte und dann gänzlich verschluckte.

Aus ihm schälte sich eine junge Sonne, beschien eine Wiese umgeben von Bäumen und im Hintergrund ein Bauwerk, dessen Konturen, vom Nebel umfangen, doch schließlich deutlich erkennbar in die Höhe ragten. Wieder veränderte sich das Bild und weit oberhalb der Erde fand sich der Betrachter nun wieder, sacht' glitt er geradeaus, schraubte sich mal tiefer, mal höher und um sich selbst, schwebte zwischen Wolken hindurch, die die unwahrscheinlichsten Gestalten formten. Dann ein Gesicht, das mit leuchtenden Augen und einem breiten Lächeln vom Blatt zum Schreiber aufblickte. Es drehte sich zur Seite und neben seinem Profil erschien ein zweites, ihm zugewandtes Gesicht, das ebenfalls lächelte. Sie verfielen in ein lautloses Gespräch. Während sie sprachen entfernten sich die Gesichter von ihrem Zuschauer, sodass ihre Umgebung ins Auge fiel. In einer gemütlichen kleinen Stube saßen sie an einem Tisch und zwischen ihnen lag ein Blatt Papier. Weiß zunächst, doch dann ergriff die eine Gestalt einen Stift, um mit wenigen, leichten Strichen Wörter auf dem vormals unbeachteten Bogen auftauchen zu lassen. Mit einer einladenden Geste schob die erste der zweiten Gestalt das Blatt zu und hielt auffordernd den Stift von sich gestreckt. Da ergriff die zweite der ersten Hand. Gerade setzte sie mit sinnender Miene die Feder auf das Papier als das Bild sich noch einmal veränderte: Nun war das Blatt zu sehen und in klarer, fast zierlicher Schrift standen dort die Worte der ersten Gestalt: „Mit diesen Worten beginnt die Geschichte...“

 Widerwillig, zwischen unbändiger Vorfreude auf das Kommende und Trauer über das Vorübergehen zerrissen, löste sich der Schreiber aus der sanften Umarmung der Worte. „Danke“, flüsterte er.

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